Das Geheimnis biblischer Glaubensrechtfertigung: Gottes Vergebung schafft ein neues Herz

Das Geheimnis biblischer Glaubensrechtfertigung: Gottes Vergebung schafft ein neues Herz
Adobe Stock – Brian Jackson

Keine Lehre der Bibel wird weniger verstanden, keine göttliche Zusage weniger erfahren. Und doch bricht aus diesem »offenen Quell« (Sacharia 13,1) eine letzte, weltumspannende und abschließende Reformation hervor. Von Alberto Rosenthal

Dieser Artikel sucht »den (Glaubens-)Artikel, mit dem die Kirche steht und fällt« (Martin Luther) – die Rechtfertigung durch den Glauben – mit Blick auf die biblische Bedeutung der Vergebung zu erschließen. Denn: »Vergebung und Rechtfertigung sind ein und dasselbe.« (Ellen White, Bible Commentary 6, 1070)

Die Kanzeln der Reformation brachten den Menschen eine Vergebung in Christus nahe, die sie zu freien Christenmenschen machte. Die Kanzeln Laodizeas kennen diese Macht der Vergebung nicht mehr. Und doch ist es genau das, was aphesis, das im Neuen Testament verwendete Wort für Vergebung, kennzeichnet: Freiheit!

Die bekannte Strong’s Concordance misst diesem griechischen Wort diese Bedeutung als erste bei. Tatsächlich bilden Vergebung und Freiheit nach biblischer Lehre eine solch unzertrennliche Einheit, das ein und dasselbe Wort für beide stehen kann. Vergebung und Freiheit werden als Synonym verstanden. Aphesis bringt dies markant zur Geltung. Sie ist Erlass der Sündenschuld – und damit der Strafe für Sünde – und zugleich Entlassung aus der Gefangenschaft: Sündenvergebung und Sündenbefreiung. Vergebung umfasst immer beides.

Nirgends wird dies im Gebrauch von aphesis so deutlich wie in Lukas 4,18. An jeder anderen Stelle, in der das Wort im Neuen Testament vorkommt, steht es in einer Wortverbindung (oder in einem Aussage-Zusammenhang), welche die Sündenvergebung in den Vordergrund stellt; weshalb die Bibelübersetzungen es mit Vergebung wiedergeben. In der Wortverbindung, in der es in Lukas 4,18 vorkommt, aber steht die Sündenbefreiung im Vordergrund. Dieser Text drückt daher die volle Bedeutung von aphesis aus. In der Synagoge von Nazareth, seiner Heimatstadt, deutete Jesus die Weissagung aus Jesaja 61,1.2 über das Werk des kommenden Messias auf seinen eigenen Auftrag: »Der Geist des Herrn ist auf mir, weil er mich gesalbt hat, den Armen frohe Botschaft zu verkünden; er hat mich gesandt, zu heilen, die zerbrochenen Herzens sind, Gefangenen Befreiung zu verkünden und den Blinden, dass sie wieder sehend werden, Zerschlagene in Freiheit zu setzen, um zu verkünden das angenehme Jahr des Herrn.« Gefangenen zu verkünden aphesis – Befreiung!

Die Vergebung des Herrn Jesus Christus macht frei, sie befreit von der Sünde, vollständig und real! Der Vogel wird aus seinem Käfig frei gesetzt, dem Gefangenen werden die Gefängnistüren aufgestoßen. Der Glaube an eine so beschaffene Vergebung wirkt sich immer nur auf diese Weise aus. Ein Dichter, der das göttliche Angebot der Vergebung in dieser Weise erkannte, vermochte das Wesen echten Glaubens poetisch in die Worte zu fassen: »Die Angst ist wie ein enger Raum, in dem ein Vogel herumflattert und verzweifelt nach einem Ausweg sucht. Der Glaube ist wie ein offenes Fenster, durch das der Vogel in die Freiheit entschwindet.« Jesus verkörperte diesen Glauben und jeder, der in Sehnsucht nach Vergebung in seine Nähe kam, spürte, dass er ihm vertrauen konnte, ganz und gar, völlig und frei, kindlich und gleich. Und sie floss von ihm aus, anhaltend und unvermindert: aphesis – zu jedem, der glaubte.

Ganz in diesem Sinn beschrieb Ellen White in unübertroffener Weise das Wesen echter Vergebung:

»Vergebung hat eine umfassendere Bedeutung als viele annehmen. Gottes Vergebung ist nicht nur ein Rechtsakt, durch den er uns von der Verdammnis befreit. Sie ist nicht nur Vergebung für die Sünde, sondern Befreiung von der Sünde. Sie ist das Ausströmen erlösender Liebe, die das Herz verwandelt. David hatte das richtige Verständnis von Vergebung, als er betete: Schaffe in mir, Gott, ein reines Herz, und gib mir einen neuen, beständigen Geist. (Psalm 51,12)« (Thoughts from the Mount of Blessing, 114)

Vergebung – das Ausströmen erlösender Liebe, die das Herz verwandelt! Welch geradezu revolutionäre Erkenntnis im Zeitalter allgemeiner Lauheit! Im Zeitalter des Vergebens und doch nicht Vergessen-Könnens! Im Zeitalter, in der die Liebe in vielen erkaltet, »weil die Gesetzlosigkeit überhandnimmt« (Matthäus 24,12). Welch ein Kontrast zum Verständnis und zur Erfahrung von Vergebung, wie sie heute allgemein vorherrscht! Hier ist wahrlich »heilsame Gnade« (Titus 2,11)! Wer sie erfährt, verfährt mit seinem Bruder und Mitmenschen auf dieselbe Weise, die ihm widerfahren ist, wird erneut zu seines »Bruders Hüter« (1. Mose 4,9).

»Vom Grundgedanken her«, so Thayers Griechisches Lexikon, meint aphesis das »Gehenlassen« der Sünden, »als ob sie nicht begangen worden wären«. Wem so vergeben wurde, der vergibt nicht anders: Mit Geist und Herz, in seiner Seele, in seinem Innern, mit ganzem Gemüt betrachtet er den Nächsten, der sich an ihm verschuldet hat und sein Verzeihen sucht, als ob dieser nie etwas gegen ihn begangen hätte. Das ist die Erfahrung von aphesis!

Mehr noch, er betrachtet ihn nun so, wie Gott einen selbst in Christus sieht, nachdem einem vergeben worden ist: So als ob er zuvor immer nur gehorsam gewesen und stets in vollkommener Liebe gewandelt wäre! Und noch mehr: Er empfindet dem gegenüber, der seine Schuld weder würde erkennen noch anerkennen wollen, auf dieselbe Weise – in Hoffnung! Gleich seinem Meister, der uns am Kreuz dieses einzigartige und befreiende Vorbild hinterließ: »Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!« (Lukas 23,34) Das muss Liebe sein! Die Liebe eines Stephanus, den die Erfahrung der Vergebung in ein Amt der Fürsorge und Fürbitte gestellt hatte, bis hin in den Tod: »Herr, rechne ihnen diese Sünde nicht an!« (Apostelgeschichte 7,60)

Dass wahre, göttliche Vergebung nicht nur Sünde erlässt, sondern zugleich Freiheit schenkt, dass sie im Augenblick selbst, wo sie von Schuld und Verdammnis befreit, das Gesetz der Liebe ins Herz pflanzt, leuchtet auch aus dem griechischen Tunwort charidsomai hervor, dass neben dem zu aphesis gehörenden Tunwort aphiemi im Neuen Testament zuweilen in der Bedeutung »vergeben« Verwendung findet.

Charidsomai leitet sich von charis ab, auf das zum Beispiel unser aus dem Griechischen entlehntes Wort »Charisma« zurückgeht. Charis ist das neutestamentliche Wort für Gnade. »Niemals«, wie Ralf Luther in seinem geschätzten Neutestamentlichen Wörterbuch schreibt, bedeutet es »bloßes Vergeben, sondern immer auch ein Sichgeben Gottes«. »Wo Gnade ist, ist eine göttliche Fülle.« »Wo Gnade ist, kann man also aus dem Vollen schöpfen.«

Wenn Paulus die Gemeinde in Kolossä daran erinnert, dass Gott ihnen in Christus »vergeben (charidsomai) hat alle Sünden« (Kolosser 2,13), hebt er durch den Gebrauch von charidsomai hervor, was ihnen beim Erlass ihrer Sünden geschenkt worden ist: die Fülle Gottes selbst! Vergeben wir einander als Christen daher wahrhaftig, begegnen wir uns in eben dieser Fülle. Wir verschenken Gnade! So richtete der große Apostel die ermutigenden Worte an die Gemeinde in Ephesus: »Seid aber untereinander freundlich und herzlich und vergebt (charidsomai) einer dem anderen, wie auch Gott euch vergeben (charidsomai) hat in Christus.« (Epheser 4,32)

Die christliche Gemeinde im kleinasiatischen Laodizea hatte den Glauben, der solch eine köstliche Frucht der Vergebung erzeugt, am Ende des ersten nachchristlichen Jahrhunderts fast vollständig eingebüßt. Ihr Glaube spiegelt sich in Gottes Endzeitgemeinde wider. Echter Glaube aber darf erfahren, was Ellen White in erneut unübertroffener Weise bezeugt:

»Der Glaube Jesu bedeutet mehr als Sündenvergebung; er bedeutet, dass die Sünde genommen wird und die Tugenden des Heiligen Geistes das Vakuum ausfüllen. Er bedeutet göttliche Erleuchtung und Freude an Gott. Er bedeutet ein vom eigenen Ich befreites Herz, Glücklichsein durch Jesu bleibende Gegenwart. Wenn Jesus die Seele regiert, herrscht dort Reinheit und Freiheit von Sünde. Im Leben kommt das strahlende, erfüllende und vollständige Evangelium zum Zuge. Die Annahme des Heilands verleiht eine Aura von völligem Frieden, völliger Liebe und völliger Gewissheit. Die Schönheit und der Wohlgeruch von Jesu Wesen zeigen sich im Leben und bezeugen, dass Gott wirklich seinen Sohn als Retter in die Welt gesandt hat.« (Christ’s Object Lessons, 419; vgl. Bilder vom Reiche Gottes, 342)

Biblische Vergebung erfüllt das Herz mit einer Freude, die nicht irdischer Natur ist. Diese Freude wünscht der himmlische Freund einem jeden Menschen zu geben und zu sein! Nicht von ungefähr auch ist charis eng mit dem Wort chara – Freude – verwandt. Beide haben denselben Wortstamm. Gottes Gnade schenkt diese Freude. Eine Freude, die aus einem gereinigten Herzen erwächst – durch das Geschenk der Vergebung! Und so schreibt die Prophetin des Endes:

»Christi Gnade reinigt, während sie vergibt, und bereitet den Menschen für einen heiligen Himmel vor.« (That I May Know Him, 336)

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